• BGH: Härtefall bei Eigenbedarfskündigung

    Härtefall bei Eigenbedarfskündigung: BGH stärkt Mieterrechte

    Wenn ein Gericht einen Här­te­fall nach einer Eigen­be­darfs­kün­di­gung prüft, müs­sen die gesund­heit­li­chen und per­sön­li­chen Umstän­de des Mie­ters sorg­fäl­tig auf­ge­klärt wer­den. Das hat der Bun­des­ge­richts­hof (BGH) in einem aktu­el­len Beschluss klar­ge­stellt. Der Fall zeigt, wie wich­tig gründ­li­che Beweis­auf­nah­me und die Wah­rung des recht­li­chen Gehörs für betag­te oder gesund­heit­lich ange­schla­ge­ne Mie­ter sind – und wie schnell Gerich­te dabei gegen Grund­rech­te ver­sto­ßen können.

    Was ist beim passiert?

    Ein 86-jäh­ri­ger Mie­ter bewohn­te seit über 40 Jah­ren eine Drei­zim­mer­woh­nung in Ber­lin. 2021 kün­dig­ten die neu­en Eigen­tü­mer das Miet­ver­hält­nis wegen Eigen­be­darfs. Der Mie­ter wider­sprach der Kün­di­gung und mach­te einen Här­te­fall gel­tend: Ein Umzug wür­de sei­ne Gesund­heit erheb­lich gefährden.

    Er leg­te ärzt­li­che Gut­ach­ten vor, die auf schwe­re Depres­sio­nen, Herz­pro­ble­me und eine star­ke Bin­dung an die Woh­nung hin­wie­sen. Trotz die­ser Nach­wei­se gaben sowohl Amts- als auch Land­ge­richt der Räu­mungs­kla­ge statt. Die Gerich­te hiel­ten die psy­chi­schen Belas­tun­gen für zumut­bar und sahen kei­ne aus­rei­chen­den gesund­heit­li­chen Risiken.

    Der Mie­ter leg­te dage­gen Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de beim BGH ein – mit Erfolg.

    Hintergründe: Härtefall bei Eigenbedarfskündigung

    Der Här­te­fall bei einer Eigen­be­darfs­kün­di­gung ist in § 574 BGB gere­gelt. Danach kann ein Mie­ter der Kün­di­gung wider­spre­chen, wenn die Been­di­gung des Miet­ver­hält­nis­ses für ihn eine unzu­mut­ba­re Här­te bedeu­ten wür­de. Das kann ins­be­son­de­re bei Krank­heit, hohem Alter oder sozia­ler Ver­wur­ze­lung der Fall sein.

    Gera­de älte­re oder gesund­heit­lich ein­ge­schränk­te Mie­ter beru­fen sich häu­fig auf die­se Rege­lung. Die Recht­spre­chung betont seit Jah­ren, dass Gerich­te in sol­chen Fäl­len beson­ders sorg­fäl­tig prü­fen müs­sen, ob ein Umzug zu gra­vie­ren­den gesund­heit­li­chen Fol­gen füh­ren könnte.

    Im vor­lie­gen­den Fall kam hin­zu, dass das Land­ge­richt die Ein­schät­zun­gen eines gericht­lich bestell­ten Sach­ver­stän­di­gen als Grund­la­ge nahm, obwohl des­sen Aus­sa­gen teils wider­sprüch­lich und unvoll­stän­dig waren.

    Worüber wurde beim “Härtefall” gestritten?

    Kern des Streits war die Fra­ge, ob die Räu­mung für den betag­ten Mie­ter eine unzu­mut­ba­re Här­te im Sin­ne des § 574 Abs. 1 BGB dar­stellt. Der Mie­ter führ­te an, dass ein Umzug sei­ne psy­chi­sche und kör­per­li­che Gesund­heit mas­siv gefähr­den würde.

    Er leg­te meh­re­re ärzt­li­che Stel­lung­nah­men vor. Dar­in wur­de vor einer „lebens­be­droh­li­chen Ver­schlech­te­rung“ sei­nes Zustands bei Ver­lust der Woh­nung gewarnt. Es bestehe die Gefahr einer sui­zi­da­len Kri­se, von Schlag­an­fäl­len und Herzproblemen.

    Das Gericht ließ zwar ein neu­ro­lo­gisch-psych­ia­tri­sches Gut­ach­ten erstel­len, folg­te die­sem aber nur teil­wei­se. Der Sach­ver­stän­di­ge hat­te sich wider­sprüch­lich geäu­ßert: In sei­nem schrift­li­chen Gut­ach­ten sprach er von einer dro­hen­den Dekom­pen­sa­ti­on des psy­chi­schen Zustands, in der münd­li­chen Anhö­rung rela­ti­vier­te er die­se Aus­sa­gen jedoch.

    Trotz der Wider­sprü­che ver­zich­te­te das Gericht auf ein wei­te­res Gut­ach­ten und lehn­te den Här­te­fall ab. Genau das bean­stan­de­te der BGH nun scharf.

    Urteil des BGH

    Der Bun­des­ge­richts­hof hob das Urteil des Land­ge­richts Ber­lin teil­wei­se auf. Nach Auf­fas­sung des VIII. Zivil­se­nats wur­de das recht­li­che Gehör des Mie­ters ver­letzt. Das Gericht habe ein unvoll­stän­di­ges und wider­sprüch­li­ches Gut­ach­ten ver­wer­tet und eige­ne Sach­kun­de bean­sprucht, ohne die­se zu belegen.

    Der BGH beton­te, dass bei einem Här­te­fall nach § 574 BGB beson­ders sorg­fäl­tig geprüft wer­den müs­se, wel­che kon­kre­ten gesund­heit­li­chen Risi­ken ein Umzug mit sich bringt. Feh­len medi­zi­ni­sche Kennt­nis­se, müs­se ein wei­te­res Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten ein­ge­holt wer­den – vor allem, wenn das bestehen­de Gut­ach­ten Wider­sprü­che oder Lücken enthält.

    Zudem dür­fe das Gericht nicht selbst medi­zi­ni­sche Bewer­tun­gen vor­neh­men, ohne über ent­spre­chen­de Fach­kennt­nis­se zu ver­fü­gen oder die­se offenzulegen.

    Der Fall wur­de zur erneu­ten Ver­hand­lung an eine ande­re Kam­mer des Land­ge­richts zurückverwiesen.

    Begründung des Urteils 

    Der BGH führ­te aus, dass der Anspruch auf recht­li­ches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ver­letzt wur­de. Das Beru­fungs­ge­richt habe wesent­li­che Beweis­an­trä­ge igno­riert und unzu­rei­chend geprüft.

    Mehrere Fehler stellte der BGH klar:

    1. Unvoll­stän­di­ge Beweis­auf­nah­me:
      Das Gut­ach­ten des gericht­lich bestell­ten Sach­ver­stän­di­gen war wider­sprüch­lich. Es hät­te ein wei­te­res Gut­ach­ten nach § 412 ZPO ein­ge­holt wer­den müssen.

    2. Feh­len­de medi­zi­ni­sche Fach­kennt­nis:
      Das Land­ge­richt wer­te­te ärzt­li­che Attes­te eigen­stän­dig aus, ohne eige­ne Sachkunde.

    3. Igno­rier­te Beweis­an­ge­bo­te:
      Der Mie­ter hat­te ein kar­dio­lo­gi­sches Gut­ach­ten vor­ge­legt, das auf schwe­re Herz­pro­ble­me hin­wies. Auch hier unter­ließ das Gericht eine sach­ver­stän­di­ge Prüfung.

    4. Unzu­läs­si­ge eige­ne Bewer­tung:
      Das Land­ge­richt schloss aus den Bahn­rei­sen des Mie­ters, dass er kör­per­lich fit sei. Der BGH stell­te klar: Sol­che All­tags­be­ob­ach­tun­gen kön­nen medi­zi­ni­sche Befun­de nicht ersetzen.

    Damit bekräf­tig­te der BGH, dass Gerich­te bei gesund­heit­li­chen Här­te­grün­den beson­ders gründ­lich ermit­teln müssen.

    Bedeutung für die Zukunft 

    Der Beschluss des BGH hat weit­rei­chen­de Fol­gen für künf­ti­ge Ver­fah­ren zu Här­te­fäl­len bei Eigenbedarfskündigungen.

    1. Stärkung des rechtlichen Gehörs

    Gerich­te müs­sen den Vor­trag der Mie­ter ernst neh­men und medi­zi­nisch fun­diert prü­fen. Wird ein ärzt­li­ches Attest oder Gut­ach­ten vor­ge­legt, darf es nicht ohne sach­ver­stän­di­ge Gegen­prü­fung ver­wor­fen werden.

    2. Sorgfaltspflicht bei Beweisaufnahme

    Wider­sprüch­li­che oder unkla­re Gut­ach­ten dür­fen nicht ein­fach über­nom­men wer­den. Gerich­te müs­sen nach­fra­gen, ergän­zen­de Gut­ach­ten ein­ho­len oder neue Sach­ver­stän­di­ge bestellen.

    3. Schutz gesundheitlich beeinträchtigter Mieter

    Beson­ders älte­re oder schwer­kran­ke Mie­ter kön­nen sich künf­tig stär­ker auf den Schutz des § 574 BGB beru­fen. Der BGH betont, dass die Gerich­te nicht nur for­mell, son­dern auch inhalt­lich prü­fen müs­sen, ob ein Umzug zumut­bar ist.

    4. Verantwortung der Vermieter

    Auch Ver­mie­ter soll­ten den Beschluss ernst neh­men. Sie müs­sen damit rech­nen, dass Gerich­te bei Här­te­fäl­len genau­er prü­fen, ob eine Kün­di­gung tat­säch­lich durch­setz­bar ist.

    5. Praktische Auswirkungen für die Immobilienpraxis

    Für Haus­ver­wal­ter und Ver­mie­ter bedeu­tet das Urteil mehr Auf­wand in der Vor­be­rei­tung von Eigen­be­darfs­kla­gen. Ärzt­li­che Attes­te oder gesund­heit­li­che Risi­ken des Mie­ters dür­fen nicht leicht­fer­tig über­gan­gen werden.

    Zugleich stärkt der BGH die Posi­ti­on von Mie­tern, die sich in exis­ten­zi­el­len Lebens­si­tua­tio­nen befin­den. Ein Här­te­fall ist kein blo­ßes Hin­der­nis, son­dern ein ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­ter Anspruch auf sorg­fäl­ti­ge Abwägung.

    Der BGH-Beschluss zeigt deut­lich: Der Här­te­fall bei einer Eigen­be­darfs­kün­di­gung ist kein blo­ßes Rand­the­ma, son­dern ein zen­tra­ler Schutz­me­cha­nis­mus des Miet­rechts. Gerich­te müs­sen medi­zi­ni­sche und per­sön­li­che Umstän­de ernst neh­men und dür­fen sich nicht auf unvoll­stän­di­ge Gut­ach­ten oder eige­ne Ein­schät­zun­gen stützen.

    Für Mie­ter bedeu­tet das Urteil mehr Rechts­si­cher­heit. Für Ver­mie­ter erhöht es die Anfor­de­run­gen an eine rechts­si­che­re Kündigung.

    Im Zen­trum steht dabei der Grund­satz des recht­li­chen Gehörs – ein Grund­pfei­ler jedes fai­ren Ver­fah­rens. Wer über das Schick­sal eines lang­jäh­ri­gen Mie­ters ent­schei­det, muss alle Fak­ten ken­nen und würdigen.

    (BGH-Beschluss v. 26. 8. 2025, Az. VIII ZR 262/24)