Bauliche Veränderung tragende Wand: Was das neue BGH-Urteil bedeutet
Bauliche Veränderung: Die Entfernung einer tragenden Wand – diese Worte stehen im Mittelpunkt eines bedeutenden BGH-Urteils, das weitreichende Auswirkungen auf Eigentümer, Verwalter und Juristen hat. Am 10. Oktober 2025 entschied der Bundesgerichtshof im Verfahren V ZR 2/24 über eine Wandentfernung, die bereits 2011 erfolgt war, aber erst Jahre später zum gerichtlichen Streit führte. Das Urteil zeigt, wie wichtig die Unterscheidung zwischen altem und neuem Wohnungseigentumsrecht ist und welche Bedeutung der Gestattungsanspruch nach § 242 BGB in Fällen baulicher Veränderungen hat.
Der nachfolgende Artikel erklärt die Entscheidung detailliert, verständlich und praxisnah. Er bietet Orientierung für alle, die sich mit baulichen Veränderungen in Eigentumswohnungen beschäftigen – ob als Verwalter, Vermieter oder Wohnungseigentümer.
Bauliche Veränderung: Was ist passiert?
Der Fall beginnt im Jahr 2011. Zwei Wohnungseigentümer (die späteren Beklagten) ließen in ihrer Wohnung eine tragende Innenwand entfernen – ohne Zustimmung der übrigen Eigentümer.
Der Eingriff war erheblich, da tragende Wände ein zentraler Bestandteil des Gemeinschaftseigentums sind. Sie bestimmen die Standsicherheit eines Gebäudes und dürfen daher nur nach fachlicher Prüfung geändert werden.
Erst viele Jahre später – 2018 – erhob eine andere Eigentümerin (die Klägerin) Klage auf Wiederherstellung der Wand. Sie wollte erreichen, dass die Beklagten die tragende Wand erneut einziehen lassen.
Das Amtsgericht Ratingen wies die Klage 2019 ab.
Das Landgericht Düsseldorf hob dieses Urteil 2023 auf und verurteilte die Beklagten zum Wiederaufbau.
Die Beklagten legten Revision ein – und vor dem BGH hatten sie Erfolg.
Hintergründe
Um das Urteil zu verstehen, muss man die komplexe Rechtslage der Eigentümergemeinschaften kennen. Besonders wichtig sind drei Fragen:
1. Was ist eine bauliche Veränderung?
Bauliche Veränderungen betreffen das Gemeinschaftseigentum. Tragende Wände gehören immer dazu. Ihre Entfernung verändert die Statik und die Struktur eines Gebäudes.
Der BGH bestätigt: Ein Eingriff in eine tragende Wand ist immer eine bauliche Veränderung.
2. Welches Recht gilt – altes oder neues?
Die WEG-Reform 2020 hat das Recht grundlegend geändert:
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Bis 30.11.2020: § 22 WEG aF
→ Zustimmung aller betroffenen Eigentümer erforderlich -
Ab 01.12.2020: § 20 WEG nF
→ Beschlusszwang ersetzt Einstimmigkeit
Die Frage lautete daher:
👉 Gilt für die bauliche Veränderung das alte oder das neue Recht?
Der BGH stellt klar: Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Fertigstellung der baulichen Veränderung.
Da der Wanddurchbruch 2011 abgeschlossen war, gilt ausschließlich altes Recht.
3. Wurde die Klage rechtzeitig erhoben?
Die Klägerin erhob erst 2018 Klage.
Relevant war daher die Frage der Verjährung.
Der BGH betont, dass die Frage der Verjährung irrelevant wird, wenn ein Gestattungsanspruch besteht, der den Beseitigungsanspruch gemäß § 242 BGB blockiert.
Worüber wurde gestritten?
Der Kern des Streits lag in mehreren zentralen Fragen:
1. Durften die Beklagten 2011 die tragende Wand entfernen?
Nach § 22 WEG aF wäre die Zustimmung aller betroffenen Eigentümer nötig gewesen. Die lag unstreitig nicht vor.
2. Hat die Klägerin einen Anspruch auf Wiederherstellung?
Die Klägerin stützte sich auf § 1004 Abs. 1 BGB.
Das Landgericht gab ihr Recht.
Der BGH erklärte jedoch: Diese Betrachtung war rechtlich unvollständig.
3. Können die Beklagten einen Gestattungsanspruch geltend machen?
Nach ständiger Rechtsprechung kann der Eigentümer dem Rückbau entgegenhalten:
„Du darfst Rückbau nicht verlangen, weil ich einen Anspruch auf Gestattung gehabt hätte.“
Dieser sogenannte dolo-agit-Einwand verlangt eine umfassende Prüfung der Interessen.
4. Liegt ein Nachteil im Sinne von § 14 Nr. 1 WEG aF vor?
Nur wenn ein Nachteil vorliegt, durfte die Wand nicht entfernt werden. Ein Nachteil muss konkret, objektiv und nicht nur geringfügig sein.
5. Haben statische Risiken bestanden – und wenn ja, wann?
Die Statik ist der Dreh- und Angelpunkt, die bauliche Veränderung (Entfernung der Wand) könnte diese beeinflussen. Die Beklagten hatten nachträglich fachgerechte Abfangmaßnahmen durchführen lassen.
Das Gebäude war nach den Feststellungen des Berufungsgerichts standsicher.
Das Urteil
Der Bundesgerichtshof entschied am 10. Oktober 2025:
1. Die Klägerin darf weiter klagen – ihre Prozessführungsbefugnis besteht.
Dies gilt auch nach Inkrafttreten des WEMoG, weil das Verfahren vor dem 1. Dezember 2020 begonnen wurde.
2. Die Entscheidung des Landgerichts wird aufgehoben.
Der BGH erklärte die Entscheidung des LG Düsseldorf als fehlerhaft. Das amtsgerichtliche Urteil (Klageabweisung) wurde wiederhergestellt.
3. Die Beklagten müssen die Wand NICHT wiederherstellen.
Der Grund: Es liegt ein Gestattungsanspruch vor, der dem Rückbau entgegensteht.
Damit hat die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederherstellung.
Begründung des Urteils
Der BGH liefert eine Reihe von wichtigen Klarstellungen, die künftig große Bedeutung haben werden.
1. Altes Recht gilt für die Wand aus 2011
Weil der Eingriff 2011 abgeschlossen wurde, musste der Fall nach § 22 WEG aF beurteilt werden.
Das Landgericht hatte fälschlich neues Recht angewendet.
2. Ein fehlender statischer Nachweis 2011 reicht nicht für Rückbau
Der fehlende Nachweis ist nur ein Argument. Entscheidend ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.
Dort stand fest:
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Das Gebäude ist standsicher.
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Der Brandschutz ist gewährleistet.
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Die Abfangmaßnahmen sind fachgerecht.
Damit liegt kein Nachteil im Sinne von § 14 Nr. 1 WEG aF vor.
3. Ein Gestattungsanspruch besteht
Der BGH folgt der Linie aus V ZR 29/24:
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Ohne Nachteil besteht ein Anspruch auf Gestattung.
-
Dieser Anspruch kann dem Rückbau entgegengehalten werden.
Damit ist der Rückbauanspruch blockiert.
4. Nachträgliche Genehmigungen zählen nicht
In der Revision hatten die Beklagten ein Protokoll aus 2024 vorgelegt, das eine Genehmigung andeutete.
Der BGH stellte klar:
-
Neue Tatsachen dürfen in der Revision nicht berücksichtigt werden.
Diese Genehmigung blieb daher ohne Bedeutung.
5. Keine Verjährungsprüfung erforderlich
Weil ein Gestattungsanspruch den Rückbau ausschließt, kommt eine Verjährungsprüfung nicht mehr zum Tragen.
Bedeutung für die Zukunft
Das Urteil hat weitreichende Auswirkungen auf das Wohnungseigentumsrecht.
1. Alte bauliche Veränderungen müssen nach altem Recht beurteilt werden
Der BGH bestätigt die Linie der jüngsten Rechtsprechung:
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Zeitpunkt der Fertigstellung ist entscheidend.
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Altes Recht bleibt maßgeblich.
Für Verwalter bedeutet das:
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Alte Eingriffe müssen rechtlich sauber eingeordnet werden.
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Protokolle alter Maßnahmen werden wichtiger.
2. Statische Nachweise können nachträglich entscheidend sein
Auch wenn die ursprüngliche Durchführung rechtlich falsch war:
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Wenn heute keine Gefahr besteht → Gestattungsanspruch möglich.
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Wenn heute Gefahr besteht → Rückbau wahrscheinlich.
Damit wird die technische Prüfung der Standsicherheit essenziell.
3. Eigentümer müssen nicht jede alte Veränderung zurückbauen
Viele bauliche Veränderungen liegen Jahre zurück.
Das Urteil zeigt:
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Ein Rückbau ist nicht automatisch erforderlich.
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Entscheidend bleibt die Frage der Beeinträchtigung.
4. Gemeinschaften müssen sorgfältig prüfen
Vor einer Rückbauforderung sollte die Gemeinschaft klären:
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Liegt ein aktueller Nachteil vor?
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Ist das Gebäude statisch sicher?
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Ist der Brandschutz gewährleistet?
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Gibt es ein Gutachten?
Ein bloßer formaler Fehler aus der Vergangenheit reicht nach diesem Urteil nicht.
5. Für Verwalter steigt die Verantwortung
Verwalter müssen:
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bauliche Veränderungen konsequent dokumentieren
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Gutachten einholen
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Eigentümer beraten
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Risiken korrekt einschätzen
6. Für Eigentümer bringt das Urteil mehr Rechtssicherheit
Eigentümer, die vor Jahren baulich tätig wurden, können sich nun besser schützen. Wenn heute keine Nachteile vorliegen, dann ist ein Rückbau kaum durchsetzbar.
7. Rechtspolitische Bedeutung
Das Urteil stärkt:
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die Einzelfallprüfung
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die Interessenabwägung
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die technische Qualität baulicher Maßnahmen
Es schwächt:
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starre formale Rückbauforderungen
Für die Praxis entsteht eine klarere Linie: Fachgerechte Eingriffe bleiben bestehen – selbst wenn sie damals nicht gestattet wurden.
Fazit
Das Urteil zur Entfernung einer tragende Wand stellt die Weichen für den Umgang mit baulichen Eingriffen in Eigentumswohnungen. Der Bundesgerichtshof stärkt den Gestattungsanspruch und betont die Bedeutung des technischen Zustands der Anlage.
Für Eigentümer bedeutet das:
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Gutachterliche Prüfung sichert bauliche Maßnahmen ab.
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Rückbau kann abgewendet werden, wenn heute keine Nachteile bestehen.
Für Gemeinschaften bedeutet das:
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Rückbauforderungen müssen technisch begründet sein.
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Formale Fehler der Vergangenheit reichen nicht mehr aus.
Für Verwalter bedeutet das:
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Dokumentation und technische Expertise sind entscheidend.
Das Urteil ist damit nicht nur ein juristischer Präzedenzfall – es ist ein praktischer Leitfaden für den täglichen Umgang mit baulichen Veränderungen im Wohnungseigentum.
